«Jeannette und ich sitzen hier in der Scheune meines Hauses in Hudson. Es ist der 13. August 2015. Wir beenden gerade unsere vier Tage Gespräche, in deren Verlauf wir auf so viele Themen zu sprechen kamen. Wir denken über das Buch nach, welches daraus entstehen soll. Ich schaue in meine Notizen und sage: ‹Es handelt vom Sieg der Gewalt.› Und Jeannette wiederholt: ‹Ja, wirklich, es handelt vom Sieg über die Gewalt.›»
Diese Zeilen liest man beim Aufschlagen des Buchs Psychoanalytikerin trifft Marina Abramović. Künstlerin trifft Jeannette Fischer, das 2018 auf Deutsch und Englisch bei Scheidegger & Spiess erschien. Der gesetzte Ton deutet an, dass zwischen den beiden Frauen bei der Entstehung des Werks, das vom Verlag unlängst zum wiederholten Mal neu aufgelegt wurde, ein tiefgründiges Vertrauensverhältnis bestanden haben muss.
Aber wie ist es überhaupt zu diesem Projekt gekommen? Und wie lief das viertägige Treffen ab? Kam es dabei zum Beispiel zu dem, was wir Laien als Grenzerfahrungen taxieren würden – immerhin ging es thematisch um Bereiche wie Gewalt, Macht und Ohnmacht, auf die sich die Zürcher Psychoanalytikerin spezialisiert hat. Um dies und anderes Interessantes rund um das Making- of des Buchs zu ergründen, haben wir Jeannette Fischer zum Gespräch getroffen.
Frau Fischer, da dieses Projekt ja auf einer engen und quasi urvertrauten Beziehung zwischen Ihnen und Marina Abramović basiert, sei die Frage gestattet: Wer hat den ersten Schritt gemacht?
(lacht): Das war ich. Aber ich muss vorausschicken, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits seit 20 Jahren gekannt haben. Und in dieser langen Zeit immer wieder versucht haben, etwas zusammen zu machen.
Da es so lange dauerte, bis es klappte, nehme ich an, dass Sie sich eine genaue Strategie zurechtlegten, um endlich zu reüssieren.
Nein, überhaupt nicht. Im Gegenteil, es geschah völlig unforciert. Irgendwann kam mir die Idee zu dieser Gesprächsreihe zum Thema Psychoanalyse und Kunst. Ich schrieb Marina spontan an, und sie sagte umgehend zu.
Vielleicht auch, weil da bereits eine Vertrauensbasis existierte?
Das hat bestimmt geholfen. Als ich Marinas Kunst das erste Mal überhaupt wahrnahm – das war anlässlich der Ausstellung Artist Body. Public Body von 1998 in der Kunsthalle Bern –, rief ich sie kurzerhand an und bat sie um ein privates Gespräch. In diesem Gespräch hatte sie binnen weniger Minuten für das psychoanalytische Gedankengut Feuer gefangen. Da ich mich im selben Masse für ihre psychisch wie physisch extreme Performancekunst interessierte, war unser erstes Zusammenkommen sozusagen auch der Beginn unserer freundschaftlichen Beziehung. Und über all die Jahre folgten viele weitere Treffen.
Dasjenige vom Sommer 2015 in Abramovićs Haus in Hudson im US-Bundesstaat New York hatte aber zweifellos einen besonderen Stellenwert. Im Sport bereitet man sich auf grosse Herausforderungen durch ein Training im körperlichen und mentalen Bereich gezielt vor. Wie sah Ihre Vorbereitung auf die Gespräche aus?
Ich muss zugeben: Ich habe mich überhaupt nicht vorbereitet.
Bitte?
(lacht) Meine einzige Sorge war tatsächlich, dass ich den Flieger verpasse. Ansonsten war ich total entspannt, schliesslich hatte ich in all meinen Praxisjahren gelernt, über die freie Assoziation Gespräche zu führen … auch im Wissen, dass es mit dieser Methode weder für sie noch für mich einen Stress geben würde.
Und das hat geklappt?
Hat es. Es waren vier sehr intensive Tage …
… aber sie waren nicht rund um die Uhr zusammen?
Nein, wir hatten ein ganz klares Setting vereinbart. Dass wir jeden Morgen etwa um die gleiche Zeit beginnen würden, das Gespräch immer im selben Raum und stets auf den gleichen Stühlen führen. Dass wir eine gemeinsame Mittagspause machen. Aber auch, dass wir uns zwischendurch in Ruhe lassen, einander aus dem Weg gehen.
Jeannette Fischer begann sich während des Studiums der Vergleichenden Religionswissenschaften auf die Freud’sche Couch zu legen und ergründete mit ihrem Psychoanalytiker ihr Unbewusstes. Diese Arbeit führte zum Berufswechsel: Von 1986 bis 2016 arbeitete sie als Freud’sche Psychoanalytikerin mit eigener Praxis in Zürich. Dabei beschäftigte sie sich intensiv mit Fragen um Gewalt, Macht und Ohnmacht. Dazu kuratierte sie Ausstellungen, drehte zwei Dok-Filme und publizierte 2018 das Buch Angst – vor ihr haben wir uns zu fürchten (Klostermann Verlag). Bei Scheidegger & Spiess erschien von Jeannette Fischer nebst dem Abramović-Buch 2022 auch noch Psychoanalytikerin trifft Helene und Wolfgang Beltracchi. Ebenfalls im letzten Jahr kam zudem ihr Buch Hass heraus, und soeben erschienen ist Was ich begehre, ist bei mir – Narziss und Narzissmus, beide bei Klostermann. (tw)
Im Vorwort steht, dass Frau Abramović wollte, dass Sie ihre Seele ergründen. Als Laie sei mir die Frage gestattet – wie geht so etwas?
Marinas Wunsch dieser Gespräche war, dass sie sich selbst versteht. Dies, weil sie ihre Performances ja absolut intuitiv macht. Sie hat eine Idee, eine Eingebung, und setzt diese um – ohne, dass sie sich selbst erklären kann, weshalb sie das tut, und ohne das, was sie tut, intellektuell zu bewerten oder zu reflektieren. Dieses Ziel haben wir schlussendlich auch erreicht.
Obwohl mit Marc Philip Seidel noch jemand mit ihm Raum sass. Hat dieser den intimen Rahmen nicht gestört?
Im Gegenteil, seine Anwesenheit hat zur Entspannung beigetragen. Zum einen, weil Marc Philip, der ein guter Freund von mir ist, sich um die Aufnahmetechnik gekümmert hat; damit bin ich sowieso stets überfordert. Zum anderen als Übersetzungshilfe – mein Englisch ist nicht überragend: Ich habe Marina gut verstanden, aber bei den Nuancen hat er mir helfen können. Abgesehen davon ist bei Marina alles öffentlich – immer, und ganz unabhängig davon, wie intim es ist. Das ist ein Teil ihrer Kunst, ein Teil ihres Erfolgs. Deshalb hat seine Anwesenheit für sie überhaupt keine Rolle gespielt.
Sie erwähnen Abramovićs Kunst, die, salopp gesagt, immer wieder ins Extreme abdriftet. Kam es auch in diesen vier gemeinsamen Tagen zu extremen Momenten?
In den Gesprächen selbst gab es das sehr wenig. Ich stellte ihr da einfach Fragen und liess sie reden. Im Anschluss daran habe ich alles transkribiert und übersetzen lassen. Und erst dann machte ich meine Deutungen zu dem, was sie gesagt hatte. Danach, das war unsere Abmachung, bekommt sie das Manuskript und gibt dazu ihr Okay – oder eben nicht.
«Bei Marina ist alles öffentlich – immer, und ganz unabhängig davon, wie intim es ist. Das ist ein Teil ihrer Kunst, ein Teil ihres Erfolgs.»
«Bei Marina ist alles öffentlich – immer, und ganz unabhängig davon, wie intim es ist. Das ist ein Teil ihrer Kunst, ein Teil ihres Erfolgs.»
Was haben Ihre Deutungen bei ihr ausgelöst?
Ich wollte es ihr persönlich vorlesen, es war mir wichtig, dass sie diese Deutungen aus meinem Mund hört. Ich reiste also nochmals zu ihr nach New York, wir trafen uns, sie hatte Kaffee, Tee und Gebäck vorbereitet, dann legte sie sich bequem auf ein Sofa und sagte mir, es könne losgehen. In diesem Moment war ich hypernervös.
Wieso?
Weil ich neun Monate daran gearbeitet hatte … und wenn sie es ablehnen würde, das war klar, war das Projekt gestorben.
Einfach wegzulassen, was ihr nicht gefiel …
… war für mich keine Option, nein, niemals. Ihr Nein hätte das Aus bedeutet, auch aus Respekt vor ihr und für unsere Freundschaft.
Wie ging das Lesen?
Es war krass. Ich las und las und las, und sie hat bis auf zwei minimale Bemerkungen einfach nicht reagiert: Kein Kommentar, keine Mimik, keine Gestik. Fand sie es gut? Oder fürchterlich? Ich hatte keine Ahnung. So las ich rund dreieinhalb Stunden am Stück, unterbrochen von einer zehnminütigen Pause.
Und dann?
Zuerst war nichts. Eine Pause, die sich endlos anfühlte. Dann stand sie auf, begann zu weinen, warf sich mir in die Arme. Ich fing ebenfalls an zu weinen. Wir weinten beide, doch aus komplett anderen Gründen. Bei ihr war es, weil sie sich, wie sie sagte, unfassbar verstanden fühlte … und bei mir war es eine Mischung aus Erschöpfung und Erleichterung, und, das am meisten: Die Freude über Marinas Reaktion.
Wenn jemand sagen würde, dieses Buch sei faktisch ein gut gemachter Seelenstrip, was würden Sie darauf antworten.
Dass die Person, die diese Aussage macht, Marina Abramovićs Kunst nicht kennt. Weil sie in jeder Performance das Innere offenbart. Und ich habe nichts Anderes gemacht, als dass ich das auf eine psychoanalytische Ebene brachte. Seelenstrip würde dann passen, wenn im Buch etwas Beschämendes, Kompromittierendes drinstünde. Aber das ist nicht der Fall. Da ist wiedergegeben, was sie macht beziehungsweise gemacht hat, übersetzt auf psychoanalytische Mechanismen. Hätte sie es als ungesunden Seelenstrip gedeutet, hätte sie dem Buch nicht zugestimmt. Aber sowas kann es bei ihr eigentlich gar nicht geben: Sie ist das Kunstwerk, alles, was sie macht, ist Performance. Deshalb – aber das ist nur meine Annahme – hat sie wahrscheinlich auch dieses Projekt als Performance gesehen.
War das Projekt auch ein Risiko für Ihre Freundschaft?
Es hätte grundsätzlich zwei Möglichkeiten gegeben. Hätte sie nein gesagt, weil sie den Text nicht hätte veröffentlichen wollen, hätte das für mich in unserer Beziehung nichts verändert. Hätte sie indes den Inhalt so schlimm gefunden, dass sie sich damit nicht hätte identifizieren können, hätte für mich die Gefahr bestanden, dass sie sich von mir abwendet.
Für wen ist das Buch gedacht und gemacht?
Da zumindest bei mir keine Absicht damit verbunden war, kann ich das gar nicht beantworten. Erfreulicherweise gab es dann aber viele Rückmeldungen von Menschen, die schrieben, sie hätten sich mit dem Inhalt an vielen Stellen identifizieren können. Das Zielpublikum ist also quasi erst durch die Veröffentlichung entstanden (lacht). In erster Linie aber ist das Buch unser Baby, und das freut uns beide sehr.
Mit Jeannette Fischer sprach Thomas Wyss
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