Ende 2018 wirft Barbara Basting einen ersten Blick in das Atelier des verstorbenen Bildhauers Peter Storrer. Ihr präsentiert sich eine Landschaft aus Kisten, Koffern, Archiv- und Bananenschachteln, Werkzeugablagen, Tonblöcken, Steinbrocken, vollendeten und unvollendeten Skulpturen. Welche Schwierigkeiten sie beseitigen muss und was sie alles entdeckt, beschreibt sie im Buch Storrers Erbmasse. Herausforderung Kunstnachlass – Ein Lehrstück. Eine solche Entdeckung ist ein Porträt von Storrers Mutter. Diesen interessanten Fund beschreibt sie in folgendem Auszug.
Wie sein Vater Willy Storrer war auch Peter Storrers Mutter im Atelier präsent, allerdings in ganz anderer Weise. Auf der Atelierliege stand das Ölgemälde einer jungen, ein wenig streng und bohrend, aber auch melancholisch und unnahbar blickenden Frau. Von dem Porträt ging eine starke Wirkung aus. Wohl daher war es mir schon bei einem der ersten Atelierbesuche ins Auge gestochen.
Ein Meisterwerk war es vielleicht nicht gerade. Dennoch verriet es Stilsicherheit und Können. War das Gemälde ein Jugendwerk Storrers oder ein Geschenk? Seltsamerweise war es ungerahmt und wohl auch nicht besonders pfleglich behandelt worden. An einer Stelle hatte die Leinwand sogar ein kleines Loch, als sei jemand mit einem spitzen Instrument darauf losgegangen.
Auf der Rückseite fand sich eine Signatur. Das Gemälde stammte vom dänischen Maler Axel Bentzen und war 1923 in Kopenhagen entstanden. Der Name der Porträtierten war mit Bleistift hinten auf das Chassis gekritzelt: Florianna Storre-Madelung. Das Porträt zeigte Peters Mutter (1902–1997). Ich stellte es vorübergehend auf das Klavier, wo aus zahlreichen Gegenständen und kleineren Kunstwerken Storrers eines der diversen Stillleben arrangiert war, die zur Ausstrahlung von Storrers Atelier beitrugen. Ursprünglich hatte ein farbintensives, weiss gerahmtes Ölpastell von Peter Storrer dessen Zentrum gebildet. Es war schon in den ersten Tagen der Räumung in die Bestände der Kunstsammlung übergegangen. Floriannas Porträt schien ein guter Ersatz dafür zu sein, bis sich auch dafür ein Ort gefunden hatte.
Zu dem Zeitpunkt, als sich die Dargestellte identifizierte, war weder der beträchtliche Umfang des Nachlasses von Florianna Storrer-Madelung in dem Atelier abzusehen noch die nicht minder gewichtige Rolle, die sie im Leben des Sohns gespielt haben dürfte. Das Porträt war eine Vorahnung davon. Florianna wachte nun sogar posthum über ihren Sohn, genauer gesagt, über all die Gegenstände und Memorabilia, die sich während Jahrzehnten im Schleppnetz des Künstlers angesammelt hatten und über deren Schicksal bei der Atelierräumung fortlaufend entschieden werden musste.
Der Maler Axel Bentzen (1893–1952) war, das ergaben erste kurze Recherchen, ein zur Entstehungszeit des Gemäldes geschätzter dänischer Künstler. Florianna Storrer-Madelung war damals mit dem Kopenhagener Kaufmann August Stürup in erster Ehe verheiratet. Vermutlich entstand das Porträt im Kontext dieser Heirat. Der Künstler ist heute mehr oder weniger in Vergessenheit geraten, auch wenn seine Werke immer wieder auf Auktionen auftauchen. Einzelne Gemälde von ihm finden sich in Museen. Ausserdem erhielt er seinerzeit Aufträge für öffentliche Gebäude in Dänemark, etwa für eine Schule in Kopenhagen. Er war zusammen mit anderen dänischen Künstlern an die Biennale in Venedig 1934 entsandt worden. Bentzen wurde in Dänemark mehrfach ausgezeichnet. Der Künstler malte Landschaften, Interieurs, Stillleben und Porträts im kantigen, spröden Stil der neuen Sachlichkeit. Seine Palette schien sich an der kreidigen Kühle der Interieurs eines Vilhelm Hammershoj zu orientieren, die scherenschnitthafte Reduktion der Motive erinnerte an Félix Vallotton. Doch sein epigonaler Stil war wohl mit ein Grund dafür, dass er später kaum noch bekannt war. Bentzen hatte auch den Vater von Florianna porträtiert, den Schriftsteller Aage Madelung, von dem noch die Rede sein wird. Bentzen war wohl der Hausmaler der Familie, vielleicht sogar ein Freund. Wo Aage Madelungs Porträt heute ist, war nicht zu klären. Gut möglich, dass es sich noch im Besitz der weit verzweigten Familie befindet. Die Anziehungskraft des weiblichen Porträts beruht auf dem kühlen Blick der Dargestellten und auf seiner ungewöhnlichen, «skandinavischen» Farbigkeit. Die Temperatur des Bilds wurde mit wässrigem Nilgrün und kalkigem Hellblau noch um ein paar Grad nach unten gedrückt. Das dunkle Haar im damals modischen Pagenschnitt und die feinen Züge liessen die Porträtierte apart wirken, à part, französisch für «abseits». Ihr bohrender Blick war melancholisch, zugleich trotzig, selbstbewusst.
Floriannas Rolle in der Familie Storrer-Madelung, insbesondere mit Blick auf ihr einziges Kind, Sohn Peter, trat immer klarer hervor, je weiter der Aufräumprozess fortschritt. 1902 in Wologda (Russland) geboren, hatte sie als blutjunge Witwe Willy Storrers trotz Widrigkeiten, zu denen ihr Privatkonkurs 1930 infolge der Kapriolen ihres Mannes sowie enttäuschende Erfahrungen mit der Anthroposophischen Gesellschaft gehörten, dessen Nachlass gebündelt und bis zu ihrem Ende gehütet. Da sie aus einer kosmopolitischen Literatenfamilie stammte und zudem eigenen literarischen Ehrgeiz entwickelte, den sie nur unvollständig entfalten konnte, war ihr nicht nur die Bedeutung persönlicher Netzwerke bewusst. Sie besass vor allem ein Sensorium für künstlerische Prozesse und deren Dokumentation. Sie hat darüber hinaus vieles aus ihrem durchaus bewegten Leben und dem ihres Sohns aufbewahrt. Briefe vor allem, Fotografien, Bücher, aber auch Schulhefte, Kinderzeichnungen. Die Kisten, die schliesslich Peter Storrers Atelier verstellten und deren Inhalt ihn wohl auch belastet haben dürfte, hatte er aus ihrem Nachlass in die Schweiz überführt. Als komplexe Persönlichkeit war sie für den Sohn – dies liess selbst ein nur oberflächlicher Blick auf die Dokumente erkennen – vermutlich ein anspruchsvolles Gegenüber gewesen. Dank ihrer beträchtlichen Energie hatte sie bis zu ihrem Lebensende im hohen Alter von 95 Jahren versucht, ihn während seiner Krisen zu stützen, vielleicht auch zu lenken. Sie war ihm immer verbunden geblieben, hat teilweise seine Klinikaufenthalte finanziert. Vermutlich war sie die prägendste Frauenfigur in Peter Storrers Leben, jedenfalls im Sinne kontinuierlicher Präsenz und Fürsorge. Die ungewöhnlich umfangreiche Korrespondenz zwischen Mutter und Sohn, die mehrere Tausend Blatt umfasst, mag hierzu detailliert Aufschluss geben. Florianna Storrers-Madelungs Biografie ist phasenweise spannend und zeugt auch von den Schwierigkeiten, auf die kreative und unkonventionelle Frauen im frühen 20. Jahrhundert stiessen. Sie hatte die frühe Scheidung der Eltern erlebt, die wiederholte Migration in verschiedene europäische Länder, eine sehr frühe, bald geschiedene erste und eine durch den frühen Unfalltod ihres Mannes beendete kurze und spannungsreiche zweite Ehe.
Die wirtschaftliche und sozial schwierige Situation als Alleinerziehende in einer Zeit, als dies ein Stigma für Frauen war, hat sie beschwert. Hinzu kam, für ihre Generation typisch, das Erlebnis zweier Weltkriege und einer heftigen Wirtschaftskrise. Als Witwe ohne Berufsausbildung, immerhin mit dem Rüstzeug einer sogenannten höheren Tochter ausgestattet, versuchte sie sich ab 1930 neben der Tätigkeit als Übersetzerin mit journalistischen Arbeiten durchzuschlagen, unter anderem als «Hilfsredakteurin», so die damalige Bezeichnung, für den Feuilletonchef der Basler Nationalzeitung, Otto Kleiber. Für ihre autobiografisch inspirierten literarischen Versuche, zum Teil unter ihrem Künstlernamen Margareta Svelmö, von denen mehrere Typoskripte zeugen, fand sie keinen Verlag. Eigens zu erwähnen ist ihre Übertragung von Christian Andersens Märchen aus dem Dänischen für die Klassikerreihe des angesehenen Manesse Verlags. Florianna versuchte ihr Glück nach dem frühen Tod von Willy Storrer mit verschiedenen Partnern, wie ein Blick in die entsprechenden Briefe verrät, und war drei weitere Male verheiratet. Doch keine dieser Beziehungen war von längerer Dauer. In diesem Kontext einer manchmal etwas verzweifelt wirkenden Suche steht der Versuch, eine engere Beziehung zu der Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach aufzubauen. Er scheiterte ebenfalls.
Das Schweizerische Literaturarchiv hat die Bedeutung von Florianna Storrer-Madelung in ihrer nicht nur kultur-, sondern auch sozialgeschichtlichen Dimension erkannt und den Nachlass als Erweiterung zu jenem von Willy Storrer in seine Bestände aufgenommen. Im Rahmen dieser Darstellung war eine ausführlichere Erforschung nicht möglich, denn die Erschliessung des Nachlasses durch das Schweizerische Literaturarchiv war zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Texts noch nicht abgeschlossen. Zudem sind die Schriften, etwa die Korrespondenz Floriannas, teilweise auf Dänisch verfasst.
Auszug aus Storrers Erbmasse. Herausforderung Kunstnachlass - Ein Lehrstück von Barbara Basting.
Fotografien: Barbara Basting
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