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Ernst Scheidegger neu entdeckt

Über das überraschende, weniger bekannte Frühwerk des grossen Schweizer Fotografen und Weggefährten vieler Künstler*innen

Zum hundertsten Geburtstag von Ernst Scheidegger würdigt das Kunsthaus Zürich und anschliessend das MASI Lugano den einstigen Magnum-Fotografen. Die Bilder unterstreichen Scheideggers Platz in der Schweizer Fotografiegeschichte der Nachkriegsjahre.

Frau an einer Hauswand stehend, vermutlich Mitte bis Ende 1940er-Jahre
© 2023 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich

In seiner Wohnung am Zeltweg in Zürich verwahrte Ernst Scheidegger eine grosse Kartonschachtel. Er hatte sie 1956 bei seiner Rückkehr aus Paris in die Schweiz mitgebracht und fast sechzig Jahre lang nicht geöffnet. Darin lagerten ungefähr hundert Fotografien, alles Abzüge, welche Scheidegger mit seinen Freunden und Kollegen bei der Agentur Magnum in den frühen 1950er-Jahren gegen eigene Fotografien eingetauscht hatte. Dieses Konvolut von Rohkopien, Presseabzügen, Archivkopien und Ausstellungsprints von Werner Bischof, Henri Cartier-Bresson, Robert Capa, Ernst Haas, George Rodger, Ruth Orkin und David Seymour war mehr als eine Zeitkapsel oder eine Memorabiliensammlung. In gewisser Weise blieb in dieser Schachtel auch Ernst Scheideggers eigene, jäh abgebrochene Karriere als Fotoreporter und Bildjournalist versiegelt.

Der Bruch in seiner Fotografenlaufbahn hatte zwei traumatische Ereignisse des Frühjahrs 1954 zum Anlass. Am 16. Mai war sein Freund und Mentor Werner Bischof bei einem Autounfall in den peruanischen Anden ums Leben gekommen. Nur neun Tage später starb der Magnum-Gründer Robert Capa, als er, unterwegs mit einem Minen-Suchtrupp, bei Thái Bình auf eine Mine trat. Für diesen Auftrag in Vietnam hatte die Agentur ursprünglich Scheidegger delegiert und akkreditiert. Erst als im letzten Moment für die Berichterstattung über einen Staatsbesuch in Ägypten nur der Schweizer Scheidegger rechtzeitig ein Visum erhalten konnte, packte Capa, der sich nicht mehr mit Kriegsberichterstattung hatte abgeben wollen, nochmals seine Kameratasche, um den Job zu übernehmen. 

Diese Ereignisse des Frühjahrs 1954 trafen Ernst Scheidegger tief, und es fiel ihm schwer, darüber zu sprechen. Sie haben zur Folge, dass er die Tätigkeit als Fotoreporter für Magnum aufgibt und auf Einladung von Max Bill einen Lehrauftrag an der Hochschule für Gestaltung in Ulm annimmt. Damit schliesst Scheidegger sein fotografisches Frühwerk ab. Der Fotografie bleibt er zwar ein Leben lang treu, aber es ist eine andere Art von Fotografie, die er fortan betreibt.

Ästhetische Wende

Andere Verwendungszwecke der Bilder und andere Zusammenhänge ihrer Entstehung verändern die Bildsprache, und Scheidegger besinnt sich zurück auf die Lehrjahre bei Hans Finsler und Alfred Willimann an der Kunstgewerbeschule in Zürich. Er bindet sein fotografisches Schaffen nun ein in ein übergreifendes Konzept der visuellen Gestaltung, welches in der Tradition des Bauhauses nicht nur Architekturfotografie, Sachfotografie und Werbefotografie, sondern auch grafische Gestaltung, Ausstellungsdesign, Buchgestaltung, Zeitungslayout sowie Werbe- und Dokumentarfilm mit einschliesst.

Und nicht anders, als er es mit den Fotografien seiner Kollegen bei der Agentur Magnum tat, hat Scheidegger auch seine eigenen Fotografien der Jahre 1945 bis 1955 für sich endgültig archiviert und abgelegt. Nur sehr selten wurde die eine oder andere davon in Büchern oder Ausstellungen berücksichtigt. Eine in diesem Herbst im Kunsthaus Zürich und anschliessend im MASI Lugano erstmals präsentierte Auswahl von ungefähr sechzig Arbeiten aus Scheideggers fotografischem Frühwerk überrascht nicht nur durch ihre Qualität, sie erhellt und unterstreicht auch seinen Platz in der Schweizer Fotografiegeschichte der Nachkriegsjahre: Der junge Scheidegger startet seine Fotografenkarriere in einem Moment, als sich in der Schweizer Fotografie ein neuer Trend anzudeuten beginnt.

Mitte der 1930er-Jahre artikuliert Gotthard Schuh (dessen Nachfolger als Bildredaktor der NZZ Scheidegger 1960 werden sollte) als erster der führenden Schweizer Fotografen ein Unbehagen über die zum Klischee erstarrenden Gestaltungsformen des «Neuen Sehens» oder der «Neuen Photographie», welche die Fotografie in den zwei Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg an die künstlerischen Avantgarden angeschlossen hatten. Die Schulung zu «Unmittelbarkeit» und «Präzision», welche die Fotografie im Umfeld von Konstruktivismus und Bauhaus in den 1920er-Jahren erhalten hatte, wird von Schuh zwar anerkannt. Um aber «das ganze vielgestaltige Leben... intensiv und spontan» im Bild erfassen zu können, wird eine neue, expressive Dringlichkeit gefordert.

Schuh und Jakob Tuggener sowie von der jüngeren Generation René Groebli und Robert Frank stehen in den späten 1940er-Jahren für eine ästhetische Wende innerhalb der Elite der Schweizer Fotografie. Der optimistische, technikgläubige Konstruktivismus der frühen 1930er-Jahre erscheint nun oberflächlich und naiv angesichts der katastrophalen Erfahrungen des Krieges und der Not der Nachkriegsjahre. Es entsteht eine introspektive, existenzialistische, oft schwermütige, subjektive Autorenfotografie. Die geduldige, genaue Beobachtung soll die Wahrheit, die in den Dingen des Alltags steckt, herausarbeiten; sie nochmals poetisch zu verdichten und auszugestalten, wird zur eigentlichen Aufgabe der Fotografie. «Photographie als Ausdruck» ist folgerichtig auch der programmatische Titel der Ausstellung des «Kollegiums Schweizerischer Photographen», die 1955 im Helmhaus Zürich den neuen Stil und seine Protagonisten vorstellt.

Clown vor seinem Auftritt im Zirkus Knie, um 1949
© 2023 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich

Fotografischer Flaneur

Und damit ist auch das stilistische Umfeld von Ernst Scheideggers frühen Aufnahmen aus der Schweiz und Europa umgrenzt. Nonchalante Fokussierung, ein oft grobes Korn, scharfe Kontrastsituationen, krasse Bewegungsunschärfen, prekäre Unter- und Überbelichtungen, verzogene Perspektiven und angeschnittene Motive zeigen einen jungen Fotografen, der nicht zögert, alles, was er in der Ausbildung gelernt hat, erst einmal gründlich zu verlernen.

Die harsch gezeichnete Motivwelt versammelt viele der Topoi der filmischen und fotografischen Neorealismen der Nachkriegsjahrzehnte: flackernde Manegenlichter auf den Gesichtern der Artisten und Clowns des Zirkus, die schäbigen Sensationen von Jahrmarkt und Rummelplatz, das lärmige Volksleben auf den Strassen südeuropäischer Städte, Bettler und Strassenkinder, Aufmärsche der Heilsarmee, ländliche Volksfeste und dramatische Arbeiterdemonstrationen. Es erklingt eine poetische Alltagsschilderung mit einer stark sozialen Akzentuierung, stille Betrachtungen eines fotografischen Flaneurs.

Das Resultat sind unprätentiöse Feuilletons überJugendgefängnisse und Waisenhäuser, über Hornusserfeste und Viehmärkte, verstaubte Tanzschulen und verlassene Werften, beiläufig und in einem eher düsteren Tonfall vorgetragen. Und in jenen ersten Nachkriegsjahren, ganz nebenbei, privat und zwanglos, besucht und fotografiert Scheidegger in Paris einen Schweizer Künstler, mit dem er sich 1943, als er im Aktivdienst im Engadin stationiert war, angefreundet hatte: Mit den ersten Porträtserien über Alberto Giacometti und sein Atelier in Montparnasse spriesst ein Pflänzchen, das später, in einer ganz anderen Lebenssituation und mit anderen Zielen, reiche Blüten trägt.

Foto: Frans de la Cousine

Ernst Scheidegger

Ernst Scheidegger (19232016), war Magnum-Fotograf, er fotografierte im Auftrag von Tériade und Maeght Künstler in ihren Ateliers, arbeitete über zwanzig Jahre als Bildredaktor der Neuen Zürcher Zeitung, machte Filme für das Schweizer Fernsehen, war Galerist, Buchgestalter und Verleger.

1962 gründete Ernst Scheidegger den Verlag Ernst Scheidegger. Eines der ersten Bücher war ein Band zu Leben und Werk von Alberto Giacometti, mit Fotografien von Scheidegger, aufgenommen in Giacomettis Ateliers in Paris und Bergell. 

Bis heute publiziert der Verlag Scheidegger & Spiess Bücher in Zusammenarbeit mit renommierten Museen, Monografien von Künstlern der klassischen Moderne, Bildbände in engem Kontakt mit Fotografen und Fotografinnen, sowie kritische Essays zur Architektur- und Kunstgeschichte. So wird Ernst Scheideggers Erbe lebendig weitergetragen.

Ernst Scheideggers Künstlerporträts entstehen ab Mitte der 1950er-Jahre und mit wenigen Ausnahmen immer im Auftrag; zunächst für Kunstzeitschriften wie «Cahiers d’art», «Verve» oder «Du», oft für Buchprojekte von Peter Schifferlis Arche-Verlag und später für Scheideggers eigenen Buchverlag. Zu einem wichtigen Auftraggeber wurde die Pariser Galerie Maeght mit ihrem ambitionierten Publikationsprogramm. Es folgten Aufträge für Wochenendbeilagen der NZZ, für die internationale illustrierte Wochenpresse, für Ausstellungskataloge von Museen.

Das Künstlerporträt wird zur fotografischen Gattung, in der er sein vielleicht fruchtbarstes Arbeitsfeld findet. Die ganz unterschiedlichen Situationen, in denen die Porträts entstehen, und die ganz unterschiedlichen Grade der Nähe und der Freundschaft, die ihn mit den Porträtierten verbinden, lassen hier einen grossen Reichtum der stilistischen Variation und der visuellen Umsetzung zu. Scheidegger verbindet das grafisch-abstrakte Auge seiner formalistischen Lehrjahre bei Hans Finsler mit der Liebe zum expressiven anekdotischen Detail seiner poetisierenden frühen Fotografenkarriere und komplettiert schliesslich sein Repertoire mit dem präzisen, nüchternen und pathosfreien Tatsachenrapport des abgebrühten Fotojournalisten. Eine Formel lässt sich daraus nicht ableiten. Vielmehr gelingen die Aufnahmen, indem Zeit, Ort und Umstände der Begegnung immer in die fotografische Gestaltung einfliessen und in ihr sichtbar bleiben. Das muss nicht heissen, dass in jedem Fall die vielbesungene katalysierende Nähe zwischen Fotograf und Künstler die Arbeit befeuert haben muss. Im Gegenteil, bei Modellen wie etwa Cuno Amiet, Le Corbusier oder Oskar Kokoschka wird der Charakter der Auftragsarbeit nicht verleugnet, und die angemessene Distanz in der Flüchtigkeit der Begegnung wird jederzeit respektiert.

František Kupka in seinem Garten, um 1955
© 2023 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich

Verzicht auf Geschwätzigkeit

Scheideggers Fotografie biedert sich nicht an und unterstellt keine Intimität. In den Fällen jedoch, wo eine persönliche Vertrautheit durch enge Arbeits- und Freundschaftsbeziehungen entstanden ist, wie etwa bei Max Bill, bei Varlin und natürlich bei Alberto Giacometti, darf diese durch einen familiäreren Duktus des Blicks und den privaten Charakter der Erzählung auch sichtbar werden, ohne dabei je ins Klatschhafte zu kippen.

Künstler sind oft Selbstporträtisten und damit auch routinierte Selbstdarsteller, sie stellen ihren Porträtisten daher auch gerne Fallen, doch Scheidegger wusste, wie man diese umgeht. Was aus seinen Künstlerporträts hauptsächlich spricht, ist ein empfindliches Gespür für Takt. Er setzt seine Kameras immer taktvoll ein, er respektiert die Selbstdarstellung seines Gegenübers und akzeptiert sie als Teil seiner eigenen Schilderung. Die Bescheidenheit, auch sogar Bedrängnis einer persönlichen Lebenssituation wird weder retuschiert noch dramatisiert, und ein grandioser Poseur wie Salvador Dalí sieht sich höchstens mit einem leisen Hauch spielerischer Ironie konfrontiert, aus der aber Sympathie und Solidarität sprechen. Die spektakuläre Inszenierung, die originelle Trouvaille, mit der Philippe Halsman und später Irving Penn und Richard Avedon in jenen Jahren als Künstlerporträtisten Furore machen, bleiben Scheidegger fremd. Er verzichtet auf Gags und auf eine Stilsignatur, und er zeigt uns keine Künstlerhelden als glamouröse Genies, losgelöst von ihrer profanen Umwelt. Scheideggers Künstler ist fast immer artifex, zugange inmitten von Spachteln und Sticheln, Farbtuben, Putzlappen, Lötkolben, Gipssäcken und Terpentinflaschen; jemand, der mit den Händen etwas herstellt und am Zeichentisch oder an der Staffelei, im Atelier, im Lager, an der Lithopresse oder in der Giesserei gerade tätig ist.

Max Bill in seinem Zürcher Atelier, um 1947
© 2023 Stiftung Ernst Scheidegger-Archiv, Zürich

Kaum je sind es feierliche Sonntagsporträts, wir sehen in der Regel Situationen, die sich jeden Tag so oder ähnlich finden, Scheidegger zeigt uns, wie der Künstler tut, was er immer tut. Der Verzicht auf Geschwätzigkeit, die professionelle Beschränkung des Einsatzes der Fotografie auf die Momente, wo sie gefragt und notwendig war, wo sie zur Erläuterung, Verdeutlichung, zur Ergänzung, Verbreitung eines Werks und der Umstände seiner Entstehung beitrug, machen die souveräne Gelassenheit dieser Bilder aus. Die Fotografie muss sich hier nie selber zur Geltung bringen, sie steht im Dienst eines Projekts.

Ernst Scheideggers fotografische Erzählungen aus den Künstlerateliers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen von einem Menschen, der letztlich das Abenteuer seiner Protagonisten teilte und die Bilder als Teil eines gemeinsamen Unternehmens verstand. Es war immer auch ein Verleger und Buchautor, ein Grafiker, ein Maler, ein Galerist, ein Filmemacher, ein Ausstellungsmacher und Kataloggestalter, der die Kameras bediente. «Fotokunst» als solche war hierbei kein grosses Thema, und wohl deshalb haben diese Fotografien bis heute so viel zu erzählen.

Text: Tobia Bezzola

Ernst Scheidegger. Fotograf

Weitere Einblicke in die Fotografie von Ernst Scheidegger

Alberto Giacometti

Spuren einer Freundschaft