«Unter all den Zeichnungen, die ich gefertigt habe, greift diese Zeichnung für mich die meisten Aspekte von James Baldwins Essay auf: sein Schreiben, die Schreibmaschine (das Herumgehacke in den Filmaufnahmen ist mir sehr geblieben), die Hütte, in der er schreibt, seine Begegnungen und die Hierarchie, die diesen Begegnungen unterliegen. Die Menschen im Dorf schauen ihn an und reagieren stark auf ihn. Sie legen ihm ihre Gedanken sowohl in Worten wie in Gesten offen. Die Gegenüberstellung des grossen starrenden weissen Kopfes und der schwarzen Figur soll diese Art von Begegnungen widerspiegeln. Und etwas subtiler verortet der einzig schwarze Ziegelstein inmitten des weissen Dachs Baldwin symbolisch als einzige Schwarze Person in diesem Dorf voller Weisser.
Das weisse Tuch, das vielleicht etwas bedrohlich über der Szene schwebt, unterstreicht für mich die vermeintliche Möglichkeit ‹Nicht-weiss› sein, wenn es dann für nötig gehalten wird, möglichst ‹weiss› zu überdecken. Für die Serie habe ich mich entschieden, ohne Farben zu arbeiten. Die Graustufen und harten schwarz-weiss Kontraste hoben das Thema unmissverständlicher hervor.»
«Das weisse Tuch taucht in meinen Zeichnungen als Symbol immer wieder auf. Es schlich sich schon früh in meinen Prozess und ist hartnäckig geblieben. Anfangs war mir nicht bewusst, woher diese Referenz kam und dann ist es mir klar geworden: Im Film zu Baldwins Essay gibt es ein Kind, das herumläuft und mit einem Holzkästli Geld sammelt für missionarische Arbeit in Afrika. Auf dem Kästli kniet und betet eine schwarze Figur in weissem Gewand. Es wird nur kurz gezeigt. Mir ist diese Szene aber geblieben. Da der Film ebenfalls schwarz-weiss ist, hatte dieses weisse Gewand für mich eine aufwühlende visuelle Kraft, wenn man sie dazu noch in den Kontext des Essays einbettet.»
«Ich habe zuerst den Essay ‹Stranger in the Village› gelesen und danach den Film gesehen. Nur der Text alleine hätte wohl nicht die gleichen Illustrationen hervorgebracht. Unter anderem habe ich Screenshots gemacht und diese während meines Prozesses in meinem Atelier aufgehängt. Anfänglich waren viele Skizzen zu nah an den Screenshots und an Baldwins Gesichtszügen. Davon bin ich wieder weggekommen. Der Film wurde schliesslich auch an der Ausstellung gezeigt und einige Stills sind im Buch abgebildet. Ich wollte nicht, dass die Illustrationen eine Repetition davon sind. Ich erlaubte mir, mehr von mir selbst in die Zeichnungen einzubringen und symbolische und metaphorische Ebenen einzubauen.
Die persönlichsten Momente in der Serie sind für mich schlussendlich die Entscheidung, welche Abschnitte, Gedanken und Szenen ich aus dem Essay herausarbeite und illustriere.
Ich entscheide, was mit mir so stark resoniert, um es visuell zu übersetzen. Der Essay hat ein paar richtig heftige Momente. James Baldwin beschreibt darin Situationen, Gedanken und Gefühle, die von Rassismus betroffene Personen heute noch aufgrund eigener Erfahrungen absolut nachempfunden werden können.»
Die Serie wurde explizit für den Katalog zur gleichnamigen Ausstellung Stranger in the Village (2023) im Aargauer Kunsthaus gezeichnet. Die Zeichnung Gegenüber (2023) aus dieser Serie (siehe erste Zeichnung) war dabei Teil der Ausstellung. Melanie Grauer arbeitet als selbstständige Illustratorin in Zürich.
Gespräch und Redaktion: Anthonie de Groot
James Arthur Baldwin (1924–1987) war einer der bedeutendsten US-amerikanischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Der Essay «Stranger in the Village» schrieb Baldwin während seines Aufenthaltes im Sommer 1951 im Schweizer Kurort Leukerbad. Er beschreibt darin seine Erfahrungen und Begegnungen als erster Schwarzer Mann im Dorf. In viele seiner Arbeiten behandelt Baldwin Themen wie Rassismus und Sexualität. Seine Erzählungen drehen sich um Fragen der Identität von Schwarzen und Homosexuellen Personen.
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