Frau Krüger, wie und wo haben Sie Sophie Schaeppi entdeckt?
Auf Sophie Schaeppi aufmerksam wurde ich bereits in den 1980er- Jahren während meiner Promotion über die bedeutende deutsch-schweizerische Künstlerin Louise Catherine Breslau. Schaeppi gehörte in Paris zu deren engem Umfeld, verkehrte in denselben Künstlerkreisen. Beide Frauen studierten gemeinsam an der ersten für Frauen geöffneten privaten Académie Julian und teilten sich während vieler Jahre ein Appartement. Ich war daher bald über die Lebensumstände während der gemeinsam verbrachten Jahre gut informiert.
War da noch mehr als diese Vorstellung von Schaeppis Zeit in Paris?
Eigentlich nicht. Als ich begann, mich mit Sophie Schaeppi zu beschäftigen, war ausser einem kurzen fragmentarischen Lexikoneintrag, der noch zu ihrer Lebenszeit erschienen war, praktisch nichts über sie bekannt.
Wie wurde aus «praktisch nichts» eine Buchidee?
Während meiner Vorbereitungen einer Breslau-Ausstellung in Lausanne stiess ich wieder auf die unbekannte Sophie Schaeppi, die nun mein Interesse an ihrer Person, ihrem Schicksal, Werk und künstlerischen Werdegang ungemein weckte.
Es war eine Art Musenkuss?
Eher Pflichtbewusstsein. Mein bisheriges Wissen über die Künstlerin wurde mir als Kunsthistorikerin gewissermassen zur Verpflichtung und Aufgabe, ihr interessantes Leben und vielseitiges Werk umfassend zu erarbeiten und zu bewahren. So begab ich mich – quasi ehrenamtlich, also ohne Auftrag eines Verlags – auf Spurensuche.
Wie geht man – Schritt für Schritt, von Tag eins bis zum Ziel – ein solches Projekt an?
Ich begann damit, ihre zahlreichen Nachfahren in der inzwischen weitverzweigten Familie aufzusuchen. Ich ging in Museen und Sammlungen, um dort nach Bildern, Skizzenbüchern, Fotos und Dokumenten zu suchen. In Archiven und Bibliotheken recherchierte ich anfangs nach Archivalien, unveröffentlichten Quellen wie Briefen, sowie nach Ausstellungskatalogen und Erwähnungen in der Literatur.
Das hört sich eher nach Floating denn nach stabsmässiger Planung an.
Und das war erst der Anfang! Die Kreise meiner Suche wurden im Laufe der Zeit immer grösser. Sie weiteten sich auf die ganze Schweiz aus, dann Frankreich, Deutschland und bis in die USA. Zuletzt wurde ich sogar in Schweden fündig.
Eine solche Suche kann auch zermürbend sein, wenn sie nur zu Brosamen führt. Gab es bei Ihnen einen Fund, der sie beflügelte?
Tatsächlich, ja. Ein wahrer Höhepunkt meiner anfänglichen Recherchen war das Auffinden von Sophie Schaeppis in französischer Sprache geschriebenen Tagebüchern. Sie beginnen 1885, ich habe 30 Bände erhalten, die ich allesamt ins Deutsche übersetzte und danach auswertete. Ich suchte auch in sämtlichen Nachlässen und Überlieferungen ihres persönlichen Umfelds im In- und Ausland und fand überraschend viele, bislang unbeachtete Briefe, ferner Tagebücher, Testamente und andere Dokumente mit wichtigen Informationen. Allein dieses umfangreiche Material zu sichten, zu erfassen und auszuwerten, war eine Puzzlearbeit.
Bei einer solchen Suche, ich weiss das aus eigener Erfahrung, führt das eine zum anderen, es geht immer weiter, immer noch tiefer, es hat ein gewisses Suchtpotenzial. War das bei Ihnen ähnlich?
Es war genauso, wie Sie sagen: Es war nie genug, ging immer weiter. Da ich auch ihre jeweiligen Lebensumstände in Winterthur, Zürich, München und Paris beleuchten wollte, recherchierte ich auch hierzu in zahlreichen Bibliotheken und Archiven und machte zu den von Sophie Schaeppi in München und Paris besuchten Privatakademien viele Entdeckungen. Aber um Ihre Frage abschliessend zu beantworten: Die letzten Ergebnisse meiner Spurensuche erhielt ich tatsächlich noch im letztmöglichen Moment – tags darauf wurde die Druckmaschine angeworfen.
Eine Entdeckung ist das eine, ein Buch etwas ganz anderes: Was hat Sie an dieser Künstlerin so sehr fasziniert?
Zum einen passt Schaeppi genau in mein Interessens- und Forschungsgebiet: Ausbildungssituation und Lebensumstände der Mitte des 19. Jahrhunderts geborenen Künstlerinnengeneration, ihre Einschränkungen und Möglichkeiten. Dazu die geschlechtsspezifische Diskriminierung im Ausbildungswesen, in der Gesellschaft und gar auf dem Kunstmarkt. Zum anderen wurden sehr viele meiner aufwändigen Recherchen und Mühen durch ungemein spannende Entdeckungen und Funde belohnt.
Anne-Catherine Krüger, in Berlin geboren, in Hamburg aufgewachsen, lebt seit 2010 in Zürich. Studium der Kunstgeschichte, Klassischen Archäologie, Altertums- und Volkskunde an der Universität Hamburg. Stipendiatin des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD). Promotion 1989 bei Prof. Dr. Martin Warnke mit einer Arbeit über die deutsch-schweizerische Malerin Louise Catherine Breslau (Biografie, Werkanalyse, Œuvrekatalog). Ab 1989 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Hamburg und Scholar des Getty Research Institute in Santa Monica, Kalifornien, sowie leitende Mitarbeiterin in Presseagenturen. Seit 2000 freischaffende Kunsthistorikerin, Autorin und Kuratorin von Ausstellungen über Künstlerinnen. Veröffentlichungen in Kunst- und Fachzeitschriften, Zeitungen, Ausstellungskatalogen, Künstlerlexika und anderen Publikationen.
Salopp gesagt: Der Appetit kam also mit dem köstlichen Essen?
Das ist schon sehr salopp gesagt (lacht). Ich würde es so formulieren: Ich war, im positiven Sinne, besessen davon, alles von Schaeppi und ihrem Umkreis zu erkunden und zu erfassen. So konnte ich im Laufe der Jahre ein umfangreiches Schaeppi-Archiv aufbauen. Und dieses Archiv verlangte geradezu danach, aus den unzähligen, allein mir bekannten Informationen, ein Buch über die Künstlerin und ihre Zeit zu schreiben.
Gab es neben dieser eher akademischen Motivation auch noch ein persönlicheres Interesse, das Sie antrieb?
Mich persönlich fasziniert an dieser Künstlerin ihre fesselnde Lebensgeschichte. Dass es ihr trotz lebenslanger Widrigkeiten und Überlebenskämpfe gelang, ein so vielseitiges Werk zu schaffen: Sie war Malerin, Zeichnerin und Buchillustratorin, sie entwarf Dekoratives, Paravents und vieles mehr. Sie gab Unterricht und war 25 Jahre lang nach eigenen Entwürfen als Fayencemalerin für die bekannte Pariser Manufaktur Théodore Deck tätig. Beeindruckend!
Das klingt fast so, als sei bei diesem langen gemeinsamen «Weg» zwischen Kunsthistorikerin und Künstlerin eine Art Beziehung oder Freundschaft entstanden? Oder ist das eine kindlich-naive Vorstellung?
In meinem Fall ist es unbedingt so. Wenn man sich während vieler Jahre derart intensiv mit einer Person beschäftigt, entsteht eine sehr enge Beziehung zu ihr. Insbesondere ihre zahlreichen unveröffentlichten Schriften wie die Tagebücher oder Briefe, die ich entdeckte, gewährten mir tiefe intime Einblicke in ihre Gedanken- und Gefühlswelt, die auch im Buch zum Ausdruck kommt. Dies verbindet ungemein.
Also auch mit richtigen Emotionen?
Genau. Sophie Schaeppi wurde mir eine sehr vertraute, sehr nahestehende Person, die meine Gefühle bewegte. Ich freute mich mit ihr, wenn sie berufliche Erfolge feierte, Aufträge hatte oder in ihrer Beziehung zur geliebten Freundin aufblühte. Fast noch intensiver war mein Mitgefühl, wenn sie ungerecht behandelt oder betrogen wurde, Geldnot hatte, krank war, unter dem Ende einer Liebesbeziehung zu einem Pariser Künstler litt. Dann litt ich geradezu mit. Selbst wenn ich ihre Werke in den Händen halte wie sie einst selbst, bewegt mich dies emotional, und ich empfinde diese Nähe zu ihr, weil ich die Entstehungsgeschichten der Werke sehr genau kenne.
Sie haben es erwähnt – die Beziehung wurde auch deshalb so intensiv, weil die Arbeit am Buch viele Jahre in Anspruch nahm. Wie hält man die Motivation in einem solchen «Marathon» hoch? Was, wenn Zweifel zu nagen beginnen?
Ich würde lügen, wenn ich behauptete, keine Phasen der Verzweiflung erlebt zu haben. Das zuvor Gesagte gibt nur eine ungefähre Vorstellung von meinen jahrelangen, intensiven Recherchen, von denen einige leider ergebnislos in einer Sackgasse endeten. Und auch das Schreiben eines so umfassenden Buches ist eine anstrengende, fordernde Tätigkeit. Ich wurde manchmal gefragt, ob sich der Aufwand für eine unbekannte Künstlerin überhaupt lohne.
«Sophie Schaeppi ist ein Vorbild.»
«Sophie Schaeppi ist ein Vorbild.»
Was haben Sie geantwortet?
Dass sich gerade für Sophie Schaeppi die Mühe auf jeden Fall lohnte. Zwar wusste ich anfangs nicht, wie weit ich kommen würde. Doch – und das bezieht sich auch auf Ihre vorherige Frage zur Motivation –, im Laufe der Zeit konnte ich so unvorstellbar viele Informationen, Erkenntnisse und Materialen zur Künstlerin wie auch zu bekannten Persönlichkeiten aus ihrem Umfeld recherchieren, dass mein Spannungspegel alles in allem hoch blieb. Jeder Fund, ob nun ein Gemälde in Paris, Dokumente in Lothringen oder aber Briefe in München, belohnte mich für manche vergebliche Mühe, es half, manche Tiefpunkte beiseitezuschieben. Oder um bei Ihrem Bild zu bleiben: Ich bin immer weitergelaufen, habe durchgehalten – wie Sophie Schaeppi.
Man hört immer wieder, das Schreiben eines Buches sei ein rein idealistischer Akt, der sich mit dem Honorar niemals abgelten lasse. Gibt es stattdessen eine andere Form von «Lohn»?
In diesem Fall war das Schreiben tatsächlich ein rein idealistischer Akt. Zu meinem «alternativen» Lohn gehört, dass ich beim Betrachten des Buches wahre Freude empfinde. Dass ich froh bin, diese Herausforderung zu einem guten Ende gebracht zu haben. Darüber hinaus wollte ich mit dem Buch ein spannendes Künstlerinnenleben aufzeigen, das repräsentativ ist für das Schicksal vieler Frauen und Künstlerinnen aus Schaeppis Zeit, eingebettet in das damalige gesellschaftliche Klima. Dies wurde mir nun von meinen ersten Leserinnen und Lesern genauso bestätigt. Das ist eine weitere Form meines Lohnes.
Zum Schluss interessiert natürlich noch die Frage, für wen das Schaeppi-Buch gedacht und gemacht ist? Oder frecher gefragt: Wieso sollte sich eine heutige junge Frau für dieses längst verblichene Schicksal interessieren?
Das Buch richtet sich zunächst an eine Leserschaft, die sich für Frauenschicksale und Künstlerinnenleben des 19. Jahrhunderts interessiert, es ist sorgfältig recherchiert, wissenschaftlich fundiert – und gleichwohl gut lesbar. Darüber hinaus liefert es neue Erkenntnisse für Kunsthistorikerinnen und -historiker, die über diese Künstlerinnengeneration, ihre Lebensbedingungen, Kreise und Ausbildungssituationen in München, Paris oder Zürich forschen.
Und die heutige junge Frau?
(lacht) Dazu wollte ich gerade kommen. Eine heute junge Frau entdeckt mit der Lektüre eine interessante und kreative Künstlerin, die sich nur mit Durchhaltevermögen und Zielstrebigkeit gegen die Widerstände in der Gesellschaft und Familie behaupten konnte. Sophie Schaeppi ist ein Vorbild. Das Buch wird eine junge Leserin auch damit beeindrucken, dass eine Frau vor 150 Jahren trotz eklatanter äusserer Unterschiede oftmals genauso empfand und dachte wie wir heute.
Mit Anne-Catherine Krüger sprach Thomas Wyss
Eine Entdeckung: Das erste Buch über eine beeindruckende Künstlerin.
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