Der Staat, in dem wir leben, hat zwei Grundsätze hinsichtlich der Lebensqualität seiner Bürgerinnen und Bürger: Alle Menschen sollen gerechte und gleiche Chancen haben, ihr Leben so zu führen, wie sie es sich wünschen. Und diejenigen, die schlechtere Chancen für ein gelingendes Leben haben oder in einer Notlage sind, sollen Unterstützung erhalten.
Sobald die Existenz eines Menschen bedroht ist, soll also der Staat helfen – entweder direkt oder über eine Organisation, die rechtlich dazu befugt wird. Das ist die Kernidee des Sozialstaates. Die Schweizerische Bundesverfassung zum Beispiel garantiert allen Menschen, die in der Schweiz leben, das Recht auf Gleichbehandlung. Dies schliesst auch mit ein, das niemand aufgrund von Herkunft, Rasse, Geschlecht, Alter, Sprache, sozialer Stellung, Lebensform, religiöser, weltanschaulicher oder politischer Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung ungleich behandelt werden darf. Das Angebot staatlicher Hilfen (wie Sozialhilfe, Altersrente oder andere Zuwendungen) soll also allen Menschen, die darauf angewiesen sind, offenstehen. Zu den Leistungen des Sozialstaates gehört ebenso die Begleitung und Beratung in Notlagen. Weil sich die Hilfsangebote je nach Notlage ausrichten, in der sich ein Mensch befindet, gibt es spezielle Hilfen für Menschen, die obdachlos sind oder denen droht, die Wohnung zu verlieren.
Dass Menschen in Notlagen geraten, hängt nicht nur mit ihnen selbst zusammen, sondern immer auch mit Ursachen, auf die ein einzelner Mensch wenig Einfluss hat.
Dass Menschen in Notlagen geraten, hängt nicht nur mit ihnen selbst zusammen, sondern immer auch mit Ursachen, auf die ein einzelner Mensch wenig Einfluss hat.
Hier lassen sich aber auch Widersprüche erkennen: Wenn in Not geratene Menschen auf staatliche Hilfe angewiesen sind, kommen sie nur schwer wieder davon weg, denn ein Problem wie Arbeitslosigkeit kann durch finanzielle Unterstützung oft nur aufgeschoben, aber nicht gelöst werden. Hilfeleistungen anzunehmen kann also bedeuten, von staatlicher Hilfe abhängig zu werden, ohne dass die eigentlichen Probleme aus dem Weg geräumt werden. Deshalb ist die Beratung so wichtig. Finanzielle Hilfen sind zwar nötig, aber wenn die Beratung fehlt oder zu kurz kommt, hilft die finanzielle Zuwendung allein langfristig nicht. Für Aussenstehende ist das oft nur schwer nachzuvollziehen, deshalb wird häufig von einer Bequemlichkeit der Hilfesuchenden gesprochen, oder dass sie es sich gemütlich machen. Manchmal heisst es auch, sie seien selbst schuld an ihrer Armut und würden den Sozialstaat ausnutzen.
Text: Matthias Drilling, Nora Locher, Esther Mühlethaler, Jörg Dittmann
Zur Vernissage des Buchs Obdachlosigkeit – Warum sie mit uns allen zu tun hat fand ein kurzer Spaziergang statt, auf dem zwei Surprise-Stadtführer von ihren Erlebnissen berichteten. Wie im Buch sollten nicht nur Forschungsergebnisse präsentiert werden, sondern vor allem auch das Leben von obdachlosen Personen: wie das Stadtbild zunehmend feindlicher und verdrängender gestaltet wird; wie alltägliche Dinge – zum Beispiel die eigene Hygiene – zur logistischen und seelischen Herausforderung werden; warum der Tag für Obdachlose oft frühmorgens beginnt, wenn alle anderen noch schlafen. Zwischen 20 und 30 Kilometer legt eine wohnungslose Person pro Tag zurück; ein tägliches, notwendiges Wandern von einer Institution zur nächsten, um Grundbedürfnisse stillen zu können.
Hans-Peter und Nicola, zwei Surprise-Stadtführer aus Zürich, teilten mit den Besucherinnen und Besuchern Erfahrungen, die ihre Zeit in der Obdachlosigkeit prägten. Neben den körperlichen Anstrengungen ist ein Leben auf der Strasse auch gefährlich. Selbst wenn der Schlafplatz gut wettergeschützt und versteckt sei, bleibe man willkürlicher Gewalt ausgeliefert, erklärt Hans-Peter. In einen Schlafsack eingepackt habe man keine Chance, sich gegen plötzliche Übergriffe zu wehren. Nicola erzählte nach dem Spaziergang im Gespräch, er finde, Hilfe sollte selbstbestimmt und mit Freude geleistet werden. Jemandem Hilfe anzubieten, solle nicht aus Zwang geschehen, sondern freiwillig, aus persönlichem Interesse und im Wissen, auch etwas zurückzubekommen – nämlich zwischenmenschlichen Austausch. Austausch, der uns alle etwas angeht.
So wie die Vernissage «etwas anders» gestaltet wurde, sind auch soziale Stadtrundgänge keine klassischen Stadtführungen. Sie ermöglichen einen anderen Blick auf die Stadt und ihre Bewohner*innen und wollen Vorurteile abbauen. Alle Stadtführer*innen kennen Armut, Ausgrenzung, Obdachlosigkeit, Gewalt, Suchtprobleme oder psychische Erkrankungen aus eigener Erfahrung. In ihrer Ausbildung bei Surprise setzen sie sich intensiv mit ihrer Vergangenheit und ihren Lebensbrüchen auseinander. Auch die Tour-Texte und die Routen der Stadtführungen entstehen gemeinsam mit Fachpersonen – immer entlang der individuellen Lebensgeschichte. So ist jeder Soziale Stadtrundgang einzigartig.
Die Stadtrundgänge des Vereins Surprise in Bern, Basel und Zürich bieten für jeden von uns die Möglichkeit, mit der komplexen Thematik in Kontakt zu treten, zuzuhören, zu lernen, und besser zu verstehen.
Mitten unter uns und doch ausgeschlossen: Neue Perspektiven auf Obdachlosigkeit in Text, Illustration und Fotografie
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