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Neutralität aus der Pralinenschachtel. Irgendetwas kriegt man immer

Das Buch «Modell Neutralität» widmet sich einem brisanten Thema. Die Satirikerin Patti Basler nimmt dies zum Anlass, in einem Essay tief in die Pralinenkiste der Schokoladen-Königin Helvetia zu blicken.

Eine weisse Taubenfeder zieht ihre Bahn durch den Himmel. Klaviermusik. Auf einer massiven Bank sitzt eine Frau. Wartend. Beobachtend. Sanft schwebt die Feder Richtung Erde und erwischt die Frau auf dem linken Fuss. Sie hebt die Feder auf und steckt sie in eine Brieftasche. Die Bank steht auf einer kleinen grünen Insel, umrauscht vom Verkehr. Daran nimmt die Frau keinen Anteil. Dafür nimmt sie dann und wann eine Praline aus einer Schachtel, die sie wie einen Schild vor sich hält.

Ein junger Mann setzt sich neben sie, gehetzt, den Blick auf die Pralinen geheftet. Die Frau stellt sich vor, bietet ihm Schokolade an, sie sei selbst Mutter von jungen Männern und habe diesen eine Lebensweisheit mitgegeben: Das Leben sei wie eine Pralinenschachtel, man wisse nie, was man kriege, Hauptsache, man kriege in jedem Fall etwas, im besten Fall ein Akkusativ-Objekt. Wer einfach nur kriege um des Krieges willen, kriege am Schluss oft gar nichts.

Sie betrachtet seine Schuhe. «Die sehen unbequem aus», meint sie, «mein Sohn verkauft Schuhe, diese sollten Sie tragen, um schneller weglaufen zu können. Ich war auch mal jung und auf der Flucht, trug unbequeme Kinderschuhe, meist war ich barfuss in unserem alternativen Regenbogen-Haushalt. Da war ich gezeugt worden von drei Männern, die dazu ihre Finger benutzten, aber im Grunde war ich eine Kopfgeburt. Als Kind wusste ich nicht recht, wohin ich gehöre, hatte Identitätskrisen, leicht und flüchtig wie ein Gas, unerreichbar hoch. Wie oft bei Flüchtenden kennt kein Mensch mein genaues Geburtsdatum. Irgendwann wurde meine Existenz verbrieft.»

Die Verfolger des Mannes nähern sich, er steht auf. Er solle woanders streiten gehen, sie wolle sich nicht in fremde Händel einmischen. In der Hitze des Gefechts ist seine Brieftasche in die Ritze der Bank gerutscht, er kann sie nicht herausklauben. Die Frau drückt die Brieftasche nach unten, unerreichbar in den Innenraum der Bank. Sie werde aufpassen, solange der Streit dauere. Dass seine Wertsachen gut aufgehoben auf der friedlichen Bank lagern, sei jetzt ihr Geheimnis.

«Viele nennen mich altersweise, da ich beobachten kann und meine Füsse so still halte, dass Taubenfedern darauf landen», erzählt die Frau inzwischen ihrem neuen Sitznachbarn, dem hintersten Verfolger des jungen Mannes. Er muss sich wohl ausruhen.

«Als Kind war ich streitlustig, wollte meiner grossen Schwester Marianne nicht die grössten Teile des Kinderzimmers überlassen. Sie dominierte, behandelte mich als Marionette, nannte sich selbst La Grande Nation. Andere Familien geniessen Ferien in Mailand, wir fetzten uns bei Marignano, natürlich verlor ich. Irgendwann versöhnten wir uns. Oder soll ich es verschwestern nennen? Ich kam zur Erkenntnis: Von grossen Schwestern profitiert mehr, wer ihnen gut gesinnt ist. Wir schworen uns ewigen Frieden. Zum Dank bekam ich Geschenke, die sie im Streit mit anderen erbeutet hatte. An die exotischen Zutaten für diese Pralinen wäre ohne ihre Hilfe kaum zu denken. Zumindest nicht so günstig.»

Der Sitznachbar brummt, deutet mit fragender Geste auf den unbenutzten Speer hinter der Bank. Sie könne nicht öffentlich eine Lanze für ihn brechen, meint sie, aber vielleicht wolle er seinen schweren Rucksack auf der Bank deponieren, die Hände frei machen. Dann wisse sie schon ein Geschäft ums Eck, betrieben von einem Cousin, beliefert von ihrem Sohn. Den jungen Mann von vorhin dürfe er aber nicht mit Waffen drangsalieren, das müsse er versprechen.

«Dreissig Jahre lang sass ich still, derweil sich meine Verwandtschaft die Köpfe einschlug. Inzwischen war ich Mutter geworden, einige meiner Söhne schickte ich zu Marianne und zu meiner Cousine Hispania, wo sie in Streitereien verwickelt wurden. Immerhin kriegten sie Geld fürs Kriegen, nicht wenige mussten ihr Leben lassen. Reich sein, das erschien mir ein gutes Lebensziel, nicht heilig, römisch, nur reich. Unabhängig von diesem römischen Heiligenschein, das war ohnehin nur Scheinheiligkeit, heilig sollten mir nur noch die Scheine sein. Die Erfüllung dieses Traums sollte noch etwas dauern.»

Auf der Bank sitzt nun eine alte, verhärmte Frau, die offerierte Praline verschwindet im beinahe zahnlosen Mund.

«Meine Zähne habe ich immer sauber gehalten, obwohl ich sie nicht allzu oft zeigte. Überhaupt wurden mir Sauberkeit und Gesundheit stets wichtiger. Meine Unabhängigkeit war die Basis für ein friedliches Leben. Aber eine Basis reicht nicht. Es braucht auch eine gute Portion Saures, um gesund zu bleiben. Zitrusfrüchte und verschiedene Mineralsalze hatten mir inzwischen meine Verwandten gebracht, angeeignet aus allen Kontinenten. Während meine Basen weiterhin mit Streitereien beschäftigt waren, trug ich Säurepeelings auf und konnte mein Gesicht wahren. Diese neutrale Balance half mir, von der Vormundschaft meiner grossen Schwester Marianne wegzukommen!»

Anstelle der alten Frau hat ein Offizier Platz genommen.

«Die Starke ist am mächtigsten allein, sagte ich mir, verbunden sind auch die Schwachen mächtig. Ich begann, Verwundete aufzunehmen, zu verbinden, Verbände hatte ich genug, pH-neutrale Salbe, zwei weisse Pflaster, gekreuzt auf blutrotem Grund. Heute wird es ‹Pflästerli-Politik› genannt. Ich selbst war nur lose verbunden, die grosse Schwester anerkannte meine Unabhängigkeit, der Bruder verschonte mich, das Mütterchen gewährte mir Freiheit. Nicht mehr in Raufereien eingreifen zu dürfen, war mir recht. Ich bleibe heil, hab noch der Söhne, ja! Doch meine Söhne geb ich nicht!»

Der Offizier lehnt die Schokolade ab, er will der erzählenden Frau an die Wäsche. Sie dürfe keinen fremden Bewaffneten über sich lassen, sie habe Enthaltsamkeit gegenüber jeglicher Einmischung geschworen. Freier Verkehr sei doch möglich, er könne bezahlen, meint er, entledigt sich der Uniform und der Bewaffnung. Sie solle auch mal unter dem Haag grasen. Er wolle es nur bilateral, keine Kollegen beiziehen, er brauche keine Wurst-Konferenz, keinen Wiener-Kongress. Er könne auch einen Pariser vor Ort vertragen.

Sie ist schnell überredet. Die schmutzigen Geldscheine werde sie später zusammen mit der Uniform waschen, ruft sie ihm hinterher, als er plötzlich wegrennt. Der Tumult auf der Strasse hat zugenommen.

Ein Mädchen, Weizenähren im geflochtenen Haar, blond wie eine Kornkammer, hat sich nun gesetzt. Es hält eine verletzte weisse Taube. Auf der Bank türmen sich inzwischen die Wertsachen der Kämpfenden. Der junge Mann kommt angekrochen, er ist verwundet. Da sei leider kein Platz mehr für ihn, sagt die Frau, ihm Pflaster und Pralinen zuwerfend. Doch bereits wird er wieder in den Kampf gezogen. Das Mädchen fragt, warum die Frau als Einzige nicht versehrt sei, sondern so gesund aussehe. Sie entgegnet, es liege an der Balance zwischen Basis und Säure: eine neutrale Oberfläche.

«Wer bist du?», fragt das Mädchen und legt ihr die Taube zu Füssen.

«Mein Name ist Helvetia», sagt die Frau, «ich sitze auf der Bank und schaue zu. An Kriegen nehme ich nicht teil. Ich nehme nur Teile der Kriegsbeute. Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen, irgendetwas kriegt man immer.» Sie stösst mit dem Fuss die Taube leicht an. «Mein Geheimrezept heisst Neutralität. Dafür nehme ich nur das Beste.» Das Mädchen staunt. «Was ist das Geheimnis?», fragt es. «Ich nehme es von allen. Das ist das Geheimnis.»

Die Taube ist tot.

Text: Patti Basler


© Roland Tännler

Zur Autorin

Patti Basler (*1976) ist eine Schweizer Bühnenpoetin, Autorin, Kabarettistin und Satirikerin. Katholische Bauerntochter, lernte im Beichtstuhl Geschichten erfinden, Schule, Matur. Fun Fact: Das Erststudium (Sekundarlehrerin) abgeschlossen beim Bruder von Reinhold Messner, das Zweitstudium (Kriminologie/ Strafrecht nebst Erziehungswissenschaften/ Soziologie) abgeschlossen beim Cousin von Arnold Schwarzenegger. Der Rest ist Gedichte.

 

Modell Neutralität

Neutralität neu gedacht: Ein spannender Dialog über die Zukunft der Schweizer Identität