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Seidenraupen auf dem Bauernhof

Auszug aus dem Buch «Kamele im Kuhstall, Shrimps im Swimmingpool»

Familie Spengeler, Fluck Seidenfarm,
Menznau, Kanton Luzern

Wenn die winzigen Eier aus Italien in Menznau ankommen, sehen sie aus wie Mohnsamen. Auf ihrem Hof im Kanton Luzern züchtet Familie Spengeler Seidenraupen. 2010 waren es 100, 2022 schon 50 000. Nach der Zwischenlagerung im Kühlschrank brauchen die Eier Wärme und hohe Luftfeuchtigkeit. Im ersten Jahr hat Brigitte Spengeler dafür die Oberseite der Kaffeemaschine als Ablage zweckentfremdet. Inzwischen besitzt die Familie einen selbst gebauten Brutschrank, der Platz für 30 000 Eier bietet – konstruiert aus einem Bierschrank und einer Aquariumsheizung.

«Zu klein zum Überleben, zu gross zum Aufhören», so analysiert Brigitte den Familienbetrieb. Mit der Milchproduktion haben Spengelers bereits 2005 aufgehört. Die Dorfkäserei, die ihre Milch verarbeitete, schloss ihre Türen. Statt auf den Milchexport in den Aargau zu setzen, investierte die Familie in ihre 20 Mutterkühe. Der Preis für das Naturabeef blieb seit Jahren stabil. Doch die Zukunft der zwölf Mutterschweine schien unsicher. Zeit für innovative Ideen auf dem Zwölf-Hektar-Hof.

 

Nach dem Kühlschrank, vor dem Brutschrank: Brigitte Spengeler verteilt die winzigen Seidenraupeneier mit einer Feder.
© Claudia Schildknecht

2009 entdeckte Brigitte den neu gegründeten Verein Swiss Silk, den Berufsverband der Schweizer Seidenproduzent:innen. Mann und Sohn waren skeptisch, doch die 67-Jährige setzte sich durch. Was heute ausgefallen scheint, hat in der Schweiz eine lange Tradition. Die Seidenindustrie machte einst einen wichtigen Teil der Schweizer Wirtschaft aus. Tessiner Bäuer:innen produzierten bis Mitte des 19. Jahrhunderts Seide. Die Fleckenkrankheit, die es den befallenen Raupen verunmöglicht, Seide zu produzieren, setzte Europas Raupenaufzucht jedoch ein jähes Ende. 

Nun sind die samtig weichen Tierchen zurück. Spengelers zählen zu insgesamt acht Betrieben in der Schweiz, die gewerbsmässig Seide produzieren. Neben der Aufzucht von Seidenspinnern müssen die Bäuer:innen Maulbeerbäume kultivieren. Denn die Maulbeerspinner, wie die Raupen auch genannt werden, ernähren sich nur von frischen Blättern der Weissen Maulbeere. Ist das Futter schlecht, wird die Seide schlecht. Die Plantage der Familie umfasst 700 Bäume. Die 50 000 Raupen verschlingen in den 27 Tagen bis zur Verpuppung eine Tonne der saftigen Blätter. Spengelers düngen die Bäume mit der Jauche ihrer Viehzucht und dem Kot der Seidenraupen. Die Seidenproduktion ist eine Kreislaufwirtschaft. 

Sepp Spengler pflückt Maulbeerblätter. Die sommergrünen Bäume ermöglichen die Seidenraupenaufzucht von Mai bis September.
© Claudia Schildknecht

Ei, Raupe, Puppe, Schmetterling – diese vier Stadien durchlaufen Seidenspinner in der freien Natur. Auf dem Bauernhof schaffen sie es nicht bis zur letzten Etappe. Nachdem sich die Tierchen fast 30 Tage und Nächte satt gefressen haben, beginnt das Raupenballett. Wie Tanzende strecken die mattgrauen Raupen ihre Köpfchen in die Höhe. Ihre Körper verfärben sich gelblich. Brigitte weiss, es ist Zeit für die Verpuppung. Innerhalb von 24 Stunden wird jede Raupe einzeln aus dem Gehege gepflückt und in ein Kartongitter gesetzt, wo sie sofort beginnt, sich einzuspinnen. Für erstklassige Seide müssen die Kokons frei hängen. Verpasst Brigitte den richtigen Zeitpunkt, spinnen sich die pappsatten Raupen auf den Blättern ein. Dann bekommen ihre Kokons glatte Stellen, der Seidenfaden wird rissig und lässt sich nicht mehr abhaspeln. Aus den übrigen Maulbeerblättern, die auch die nimmersatten Raupen nicht schaffen, macht Brigitte Tee. Der schmecke wie Brennnesseltee und sei gut zur Unterstützung bei Bluthochdruck und Diabetes, sagt sie.

Endspurt: Die Seidenraupen vertilgen die letzten Maulbeerblätter vor der Verpuppung.
© Claudia Schildknecht

Am fünften Tag der Verpuppung – bis zum Schmetterling wären es fünf weitere – erntet die Menznauer Seidenbäuerin die Kokons. Im Ofen aus Indien werden sie getrocknet und anschliessend an Ueli Ramseier übergeben. Der Gründer von Swiss Silk bringt sie in die eigene Seidenhaspelwerkstatt. Von einem Kokon lassen sich ungefähr drei Kilometer Faden abwickeln. Von da geht es weiter zum Zwirbeln und Weben. Schliesslich entstehen aus der Schweizer Seide Schals, Portemonnaies und Stoffe. Seit 2021 verkaufen Spengelers zudem einen Teil der Kokons an das deutsche Unternehmen Fibrothelium, das die Seide zu Zahnimplantaten verarbeitet.

Brigitte Spengeler sortiert Kokons aus. Lassen sie Licht durch, sind sie zu dünn für die Textilindustrie.
© Claudia Schildknecht

Familie Spengeler verwendet auch die Nebenerzeugnisse der Seidenproduktion. Schwer verwertbares Restmaterial der Seide verfeinert Naturseifen. Aus den schwarzen Beeren des Maulbeerbaums kocht Brigitte Sirup für ihre Enkelkinder. Die Beeren schmecken ein wenig wie Brombeeren, nur viel süsser. Der Verkauf der Maulbeeren ist in Planung. Dafür zieht die Familie Stecklinge auf, die mehr Früchte tragen sollen. Zudem sollen die verpuppten Raupen, die zum Zeitpunkt der Kokonernte viel Eiweiss enthalten, in Zukunft zu Hamsterfutter verarbeitet werden. Und auch die nächste Nische gedeiht bereits: 150 Haselnusssträucher. Die Nachfrage ist gross. Denn den Confiserien fehlen Schweizer Haselnüsse, um ihre Pralinen als Schweizer Produkt zu verkaufen.

Eigenwillige Raupen spinnen den Kokon ausserhalb des Kartongitters. Ihre Kokons geben nur zweitklassige Seide her, die sich nicht für die Textilindustrie eignet. Die Seide wird zerhackt und zu einem neuen Faden gesponnen.
© Claudia Schildknecht

«Vom Kokon einer Seidenraupe lassen sich drei Kilometer Faden abwickeln.»

«Vom Kokon einer Seidenraupe lassen sich drei Kilometer Faden abwickeln.»

Für ein Kilo Frischgewicht der Seide bekommen Spengelers 35 Franken. Für besonders gute Qualität gibt es einen Zuschlag. Sohn Daniel hat auf dem Hof einen eigenen Schopf für die Raupenzucht mit integrierter Glaswand für Führungen gebaut. Die Gruppenführungen und der Verkauf von Seidenprodukten bringen zusätzlich Geld ein. Das mache, so schätzt Brigitte, einen Stundenlohn von ungefähr 20 Franken. Das sei aber nicht schlecht, denn der Stundenlohn von normalen Bäuer:innen liege bei 16 Franken. Und so sieht die Zukunft des Betriebs zwar nicht unbedingt rosig aus, aber mit Sicherheit seidig. 

Text: Alice Britschgi

Fotografien: Claudia Schildknecht

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