DeutschEnglish |

7,5 Fragen an Haemmerli

Was wir immer schon von Autor, Kolumnist und Filmemacher Thomas Haemmerli wissen wollten ... uns aber bislang nicht zu fragen getrauten

Die sechste Person, die wir mit unserer Reihe 7,5 Fragen an ... herausfordern, ist Thomas Haemmerli. Auf seiner abwechslungsreichen beruflichen Tour d’Horizon war der Zürcher schon als Journalist (SRF, ARD, Tamedia), Kolumnist, Sachbuchautor, Experimental- und Dokumentarfilmer (Sieben Mulden und eine Leiche, Die Gentrifizierung bin ich: Beichte eines Finsterlings) tätig, zudem verantwortet er den Abstimmungsservice votez.ch.

Zusammen mit Brigitte Ulmer, Journalistin und Publizistin mit Spezialgebiet Kunst, hat Haemmerli im Verlag Scheidegger & Spiess unlängst Kreis! Quadrat! Progress! herausgegeben. Das Buch porträtiert Zürichs konkrete Avantgarde um Max Bill, Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse sowie deren Umfeld samt Impulsgeberinnen und Vorläufern wie Sophie Taeuber-Arp oder Theo van Doesburg. Die breite Überblicksdarstellung hat zweifellos das Potenzial zum neuen Standardwerk in diesem Themenbereich.

Wie alle an dieser Serie beteiligten Personen hat Thomas Haemmerli einen Fragebogen erhalten, der eigens für ihn kuratiert wurde – und der sich direkt oder in Anspielungen auf das erwähnte Buch oder sein Wirken bezieht.

1. Ganz generell gefragt – lieber konkret oder abstrakt, und wieso?

Konkret, weil der Begriff präzise ist und allein die Loslösung der Malerei von einer Aussenwelt meint, derweil abstrakt schwankend beides bezeichnet: den Schritt zur Verallgemeinerung, etwa, wenn Mondrian einen Baum in Vierecke übersetzt, sowie Kunst, die auf einen realen Referenten verzichtet. Konkret, weil ich – im Einklang mit Gemeinde- und Nationalrat Max Bill – für Realpolitik und konkrete Gesetze brenne, derweil ich die verblasenen Spiegelfechtereien und akademischen Kulturkämpfe für einen Irrweg halte. Konkret, weil ich in Texten Beispiele, Personalisierungen und Anekdoten hermetischer Theorie vorziehe. Drei zu null für konkret.  

2. Wie geht man a) vor und b) mit dem Druck um, wenn man ein Buch machen soll, von dem die ganze Kunstszene nichts Geringeres als das künftige Standardwerk zu den Zürcher Konkreten erwartet?

Erwartung? Ablehnung gab’s! Weil man das Unterfangen für überflüssig hielt. Zum Thema sei alles gesagt – auch wenn es bislang keine Überblicksdarstellung zu den Zürcher Konkreten gab. Ablehnung auch, weil meine Co-Herausgeberin Brigitte Ulmer und ich – horribile dictu –, vom Journalismus kommen. Deshalb erzählen wir anschaulich, biografisch und vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte. Allerdings musste ich mich den Gepflogenheiten insofern beugen, als Lektorin Dr. Britta Schröder (Dissertations-Thema: Konkrete & Mathematik. Eigenbezeichnung: «Korinthenkackerin») mich die Korrekturpeitsche schmecken liess, wenn ich nicht streng gemäss kunsthistorischen Standards zitierte oder mich sonstiger journalistischer Frivolitäten schuldig machte.
 

Max Bill, unendliche schleife oder kontinuität, 1947, Stahlgerüst mit Kalkputz
© Foto: Ernst Scheidegger, 2024 Stiftung Ernst-Scheidegger-Archiv, Zürich

3. Welches ist Ihre Lieblings-Konkrete oder Ihr Lieblings-Konkreter? Und wenn wir schon dabei sind: Welches ist Ihrer Meinung nach die erotischste geometrische Form? Natürlich gern alles begründet.

Huuu! Begeistert bin ich von einer Arbeit Xanti Schawinskys, die ich im Kunstmuseum Solothurn gesehen habe: Mit einer halb transparenten Gaze spannt er eine zweite Bildebene vor die Leinwand, changierend lappt die Komposition ins Kinetische. Bei Bill trauere ich der nur von schwarzweiss Fotos bekannten Skulptur «kontinuität» nach, die er 1947 am Zürichsee aufstellte, und die Jungzünfter in Stücke schlugen. Von Lohse verehre ich die Arbeiten, bei denen sich die Grösse der Rechtecke so verändert, dass sich räumliche Effekte ergeben, was mich immer an Op Art denken lässt. 

Wie alle, war ich hin und weg von der Verena Loewensberg Ausstellung im MAMCO Genf, die den Rahmen des Konkreten sprengte. Dann… Halt! Sie verlangen ja noch, dass ausgerechnet ich, ein schwerstheterosexueller Cis-, wenn nicht gar Fis-Mann, zur Erotik geometrischer Formen assoziiere. Hmm. Fürs Phallische fällt mir keine ein. Das Dreieck ist seiner libidinösen Besetzung im Zuge Brazilian Waxings & generalisierter Schamhaarausrottung etwas verlustig gegangen. Selbst bei Bill, der im Bauhaus die freie Liebe entdeckte und zeitlebens ein homme à femme war, verführt mich nichts in Richtung Schlüpfrigkeiten und Untenrum. Bei aller Liebe, ich sehe keine Verpartnerung von Erotik und Konkreter Kunst. Zu deren Relation und Wechselwirkungen konsultieren Sie besser Michael Hiltbrunners Katalog «Das Dreieck der Liebe. Körperlichkeit und Abstraktion in der Zürcher Kunst».

4. Gibt es eigentlich eine nachvollziehbare Erklärung, weshalb gerade im leidenschaftlichen Lateinamerika diese streng genormt und unterkühlt wirkende Kunstform derart populär war?

In den 1950ern und -60ern gab es in Lateinamerika grosse Hoffnungen und vielversprechende Ansätze vernunftgeleiteten Gesellschaftsfortschritts. Venezuela war einmal prosperierend und wohlorganisiert, Mexiko aufstrebend. Das schlug sich nieder in moderner Architektur und Kunst, etwa in Brasilia, der von Niemeyer errichteten neuen Hauptstadt aus den 60ern. In diesem Klima fiel Max Bills Arbeit auf fruchtbaren Boden, deshalb kamen Lateinamerikanerinnen an Bills Hochschule für Gestaltung in Ulm. Die Tradition konkreter Kunst ist geblieben, derweil der politischen Moderne der Garaus gemacht wurde von Caudillos, Militärdiktaturen und korrupten Parteien jedweder Couleur. Ausserdem gab es auch wieder Absetzbewegungen. Der Brasilianer Hélio Oiticica etwa, der unter Max Bills Einfluss konkret malte und 1960 in dessen Helmhaus-Ausstellung «Konkrete Kunst – 50 Jahre Entwicklung» vertreten war, wurde ein paar Jahre später zum Bannerträger des Tropicalismo und dann frivol subjektiv in seinen mit dicken Kokain-Linien gefertigten Arbeiten.  

© Felix von Muralt

Serie 7,5 Fragen an ...

Die Serie 7,5 Fragen an ... steht stets in Zusammenhang mit einer Neuerscheinung im Verlag Scheidegger & Spiess. Dabei wird einer Person, die direkt oder indirekt mit dem Buch oder dessen Thema zu tun hat, ein Fragenbogen zugestellt, der mit eher ungewöhnlichen Fragen bestückt ist. 

Diesmal ist es Thomas Haemmerli, Autor und Dokfilmer. Kreative Chuzpe erwarb er sich in Bettina Eggers Malschule, Schneid in der Jugendbewegung von 1980, intellektuelle Verblüffungsresistenz als Langzeitstudent der Philosophie. Momentan fertigt er einen Film über den Winterthurer Immo-Tycoon und Grosssammler Bruno Stefanini.

Bild: Thomas Haemmerli mit Co-Herausgeberin Brigitte Ulmer

5. Sowohl das Schaffen der Zürcher Konkreten wie auch das Tun und Lassen der ebenfalls in Zürich entstandenen Dada-Bewegung wurden anfänglich kontrovers diskutiert und als künstlerische Provokation empfunden. Wieso hat der Dadaismus in der gesellschaftlichen Wahrnehmung später (und bis heute) einen erheblich stärkeren Nachhall erzielt?

Jede aufgeweckte Gymnasiastin begegnet im Literaturunterricht dem dadaistischen Lautgedicht und lernt, dass Dada den Verheerungen des Weltkriegs begegnet mit der Verweigerung von Sinn und Verständlichkeit. Die Konkreten kommen im Unterricht nicht vor und sind auch weniger zugänglich. Und ohnehin behandelte Zürich das Dada-Erbe sehr lange stiefmütterlich. Angela Thomas, Max Bills Witwe, berichtet in ihrem neuen Buch, wie der Waffenfabrikant Bührle, der in der Ankaufskommission des Kunsthauses sass, Bill erklärte, für Konkretes würde er keine 5 Franken ausgeben. Bei Dada sah das genau gleich aus. Dass es heute das Cabaret Voltaire gibt, geht zurück auf eine als kommunikative List eingesetzte Lüge des Besetzers und Künstlers Mark Divo, was wir in einer langen, kunsthistorischen Obliegenheiten genügenden Fussnote erläutern. Das Ungeliebte der Konkreten hat sicher auch mit dem Auftreten der streitbaren und rechthaberischen Alphatiere Bill und Lohse zu tun. Keine Kunstrichtung hat Zürich so entzweit wie die Konkreten. Eventuell ist es noch zu früh, und es braucht mehr Zeit, bis man die Zürcher Konkreten nicht bloss auf einen Raum im Kunsthaus beschränkt, dem einzigen Ort, wo Sie heute Camille Graeser, Richard Paul Lohse oder Verena Loewensberg sehen können.

6. Expo02-Leiter Martin Heller wird in Kreis! Quadrat! Progress! mit einer scharfen Polemik wiedergegeben, in der er die Arbeiten der Zürcher Konkreten als «inhaltsleere Staatskunst» charakterisiert, Kunsthistoriker und Schriftsteller Paul Nizon schimpft sie eine «Geschmacksdiktatur», die «in guter Form korsettiert» seien. Klar, dass Sie da zur vehementen Verteidigungsrede ansetzen. Wie lautet diese – pardon für den Kalauer – ganz konkret?

Nizon und Heller formulieren brillante Polemiken, aus denen sich mentalitätsgeschichtliche Aggregatzustände erschliessen, ohne die man die Wirkungsgeschichte der Konkreten nicht versteht. Die Konkreten waren immer umstritten, bis heute gibt es da und dort noch diese Fronstellungen Pro et Contra, die in ihrer Vehemenz verblüffen. Aber was Heller kritisierte, nämlich die Omnipräsenz der Konkreten etwa in Banken und Versicherungen, ist Geschichte. Die Konkreten wollten mit wohlfeilen Drucken ihre Kunst erschwinglich für jedermann machen, der Büroausstatter und Drucker Jack Waser füllte mit der Aktion «Kunst im Büro» Firmen bis zum Überdruss. Heute aber befällt einen Nostalgie, findet man noch ein Wartezimmer oder eine Provinzfiliale mit konkreten Lithos. 

Nizon polemisierte im «Diskurs in der Enge» gegen das Durchgestalten von allem und jedem und stänkerte gegen «die gute Form», was ebenfalls aus der Zeit heraus nachvollziehbar ist. Wenn ich aber an der ZHdK wieder einmal durch die Gänge irre, weil die Signaletik nix taugt, dann wünsche ich mir die Kunstgewerbeschule mit ihrer strengen Funktionalitätsorientierung zurück. Wenn ich Gott und der Schöpfung fluche, weil heute Mehrfachstecker so gefertigt sind, dass sie alle anderen Stromquellen verdecken oder weil schludrig gemachten Gerätschaften so schnell den Geist aufgeben, dann hätte ich gerne mehr «Gute Form», die nebst Schönheit auch auf Funktionalität und Dauerhaftigkeit bestand. Dann raunze ich vor mich hin: Jetzt reichts, wir brauchen eine Geschmacksdiktatur! WIR WOLLEN UNSEREN MAX BILL WIEDER HABEN!

Verena Loewensberg, Ohne Titel, 1979, Öl auf Leinwand, 100 x 100 cm
© Verena Loewensberg Stiftung, Zürich

7. Was ist das wichtigste Verdienst der Zürcher Konkreten um unsere Stadt, wie haben Sie diese beeinflusst, verändert … gar lebensqualitativ verbessert?

In den 1930ern waren Deutschland und Russland in Sachen Gestaltung die fortschrittlichsten Länder, bis Faschismus und Stalinismus den Aufbruch abwürgten. Die Zürcher Konkreten sicherten die Bestände der Moderne und behaupteten sie gegen Heimatkunst und Reaktion in der Schweiz. Sie sahen sich in der Tradition von Bauhaus, De Stijl und russischem Konstruktivismus, die alle weniger auf individuelles Künstlertum zielten, sondern mit Gestaltung eine bessere Welt anstrebten. Die Konkreten widmeten sich neben der Kunst Plakaten, Werbung, Stoffgestaltung, Möbeldesign, Typografie und Architektur. Als 1964 der britische Grafiker Richard Hollis am HB Zürich ankam, war er begeistert, wie modern die Plakate, wie avantgardistisch die Bildausschnitte waren. Die Konkreten wirkten als Geschmackserzieher, Lohse mit einer internationalen Zeitschrift für Grafik, Bill mit der ersten Duchamp-Ausstellung, die er organisierte und mit der Gestaltung der Werkausgabe von Le Corbusier, die in Zürich herauskam. 

Gross war der Einfluss der Kunstgewerbeschule, die erst Johannes Itten und dann Hans Fischli auf Bauhaus trimmten und die sich auf die Fahnen schrieb, dass man kein Kunstproletariat produziere, sondern Leute so ausbilde, dass sie in gestalterischen Berufen praktisch zu gebrauchen wären. Das alles wirkt bis heute nach. Bills Pavillonsskultpur an der Bahnhofstrasse dient jeden Mittag allen möglichen Leuten als Ort, an dem man angenehmen sitzend sein Mittagessen einnehmen kann, ohne etwas bezahlen zu müssen. Ausserdem propagierten die Konkreten das Neue Bauen, das mit seriellem und effizientem Bauen die Wohnnotfrage von der Produktionsseite her dachte. Jedes Gebäude, das aus diesem Geist kommt und nicht in den verhuschten Drei-Vier-Stockwerken der «dörflichen Bauweise» (Max Frisch) verharrt, trägt enorm zur Lebensqualität bei, weil der Boden ausgenutzt wird, um vielen ein Zuhause zu bieten. Zu guter Letzt: Max Bill engagierte sich im Gemeinde- und im Nationalrat und entgegnete auf die Frage nach seinen Erfolgen, von zwei Vorlagen könne man immer für die bessere eintreten. Gemessen an den Utopien des sowjetischen Konstruktivismus ist das ridikül. Aber vor dem Hintergrund der ebenso aufgeregten wie folgenfreien Positionsnahmen des gängigen Kunstbetriebs ist das erfrischend pragmatisch und lösungsorientiert.

Halbe Frage: Sollte «Kreis! Quadrat! Progress!» bei der Wahl der «schönsten Schweizer Bücher» wider Erwarten nicht Gold gewinnen …

… lässt mich das kalt, weil ich ohnehin weiss, dass unserem Grafiker Adrian Hablützel ein Wurf gelungen ist, und es erscheint – auch dank der Konkreten – ja so manch hervorragendes Buch. Als gut abgehangenem Kulturfritzen sind mir alle Positionen vertraut: Man gewinnt gegen bessere Projekte, man verliert gegen schlechtere, oder sitzt in einer Jury und lässt beim Taktieren und Gefeilsche etwas unverdient über die Klinge springen, um eine dringende Herzensangelegenheit zu befördern, weshalb ich allen, die auf einen Juryentscheid bangen, stets rate: Bloss nix erwarten und sich ordentlich freuen, falls es doch mal klappt.   

Fragebogen und Redaktion: Thomas Wyss

 

Kreis! Quadrat! Progress!

Zürichs konkrete Avantgarde. Max Bill, Camille Graeser, Verena Loewensberg, Richard Paul Lohse und ihr Umfeld

Konkrete Kunst, Grafik und Design wurden nach dem Zweiten Weltkrieg zum Emblem einer modernen Schweiz. Geprägt von de Stijl, russischem Konstruktivismus und dem Bauhaus zielten die Konkreten auf eine Transformation der Gesellschaft durch Ästhetik, Design und Architektur – etwa durch die Hochschule für Gestaltung Ulm.

Kreis! Quadrat! Progress! porträtiert die Zürcher Konkreten Max Bill, Camille Graeser, Verena Loewensberg und Richard Paul Lohse und ihr Umfeld sowie ihre Impulsgeber wie Sophie Taeuber-Arp, Georges Vantongerloo, Theo van Doesburg oder Anton Stankowski. Es erzählen Zeitzeugen wie der Künstler Peter Fischli und die Kuratorin Bice Curiger. Lebendig werden Verbindungen zur europäischen Avantgarde ebenso wie die Anfeindungen, die Skandale und die Durchsetzungskämpfe inmitten der Umwälzungen des 20. Jahrhunderts.